Pietät gehört zum Totenkult
Wenn ein Angehöriger oder nahe stehender Mensch verstorben ist, bedeutet das gerade bei einem plötzlichen Todesfall erst einmal einen Schock, der die Betroffenen eine Zeit lang in seinen Klauen hält und lähmt. Ist die erste Wirkung des Schocks abgeklungen, fängt der Hinterbliebene an, sich mit dem Tod des Menschen auseinander zu setzen und auch die Beziehung zu ihm noch einmal Revue passieren zu lassen.
Da Menschen nicht perfekt sind, kann diese Beziehung durchaus eine belastete und nicht durchwegs angenehme gewesen sein. Vielleicht war sie sogar von Hass, Wut und Abscheu geprägt. Und dennoch wird es in unserer Kultur erwartet, dass diese Gefühle nicht in den Trauer- und Abschiedsprozess gehören, sondern dem Toten ein gewisser Respekt erwiesen wird. Denn in unserem Kulturraum gehört Pietät zum Totenkult.
Nicht umsonst heißt es, über die Toten solle man nichts Böses sagen. Das dient übrigens nicht nur dem Schutz des guten Namens eines Verstorbenen oder gar der Heuchelei, sondern soll auch eine Hilfe für die Lebenden darstellen. Je länger man seinen Groll auf einen Verstorbenen nährt und die erlittenen Verletzungen und Ungerechtigkeiten lebendig hält, desto mehr Energie entzieht man sich selbst, die man für eine Gesundung und Verarbeitung benötigen würde. Loslassen und Verzeihen sind etwas, das man sich selbst zuliebe tut, um endlich die Bürde von Hass und Wut abzulegen und befreit davon sein Leben neu gestalten zu können.
Daher ist die Forderung von Pietät – Respekt und wertschätzender Umgang dem Toten gegenüber – eine durchaus sinnvolle Forderung auch für die Lebenden. Die vor Hass sprühende Witwe eines Toten, die auf sein Grab spuckt, ist in der Vorstellung der meisten Menschen an Abscheulichkeit und Würdelosigkeit kaum zu überbieten. Die womöglich negativen oder abschätzigen Gefühle, die der Einzelne für den Verstorbenen empfunden hat, sollte er vor den anderen Trauernden für sich behalten und erst einmal mit sich selbst ausmachen. Der Abschied fällt ein wenig leichter, wenn es gestattet ist, ihn in Ruhe und Würde und mit Pietät vorzunehmen.
Hinzu kommt, dass in einer belasteten Beziehung die Sichtweise auf einen Menschen stark eingeengt und durch die negativen Gefühle gefiltert wird. Ein Mensch hat viele Facetten und ist nie nur gut oder böse. So kann der verhasste verstorbene Chef ein wunderbarer Ehemann und Familienvater gewesen sein – eine Seite, die der Mitarbeiter nie hat wahrnehmen können. Von daher gebietet es die Pietät, die ehrliche Trauer der Familienmitglieder nicht durch von Ärger diktierte ausfallende Äußerungen zu stören.
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